Die Gretchenfrage unserer Zeit: „Wie hältst du es mit Israel?“

Grete fragt Faust: „Wie hältst du’s mit der Religion?“ Diese berühmte Gretchenfrage schafft es nicht nur in die Weltliteratur, sondern prägt auch gesellschaftliche Debatten bis heute. Für mich stellt sich die Frage, ob die Gretchenfrage unserer Zeit vielleicht lautet: „Wie hältst du es mit Israel?“ Denn seit dem 7. Oktober hängt nahezu jede gesellschaftliche Diskussion – sei es um den Nahostkonflikt, steigenden Antisemitismus oder um Proteste – davon ab, wie man zur Frage Israel steht.
Alle haben recht – und keiner hat eine LösungDabei fällt mir eine Anekdote ein: Zwei Menschen streiten sich heftig und können sich nicht einigen. Sie vertreten vollkommen gegensätzliche Positionen und finden keinen gemeinsamen Nenner. Schließlich suchen sie einen Rabbi auf, der zwischen ihnen vermitteln soll. Der Rabbi hört sich die Argumente des einen an, überlegt und sagt: „Du hast recht.“ Dann hört er sich den anderen an, überlegt ebenfalls und sagt auch zu ihm: „Du hast recht.“ Ein Dritter, der das Ganze beobachtet, ist fassungslos und fragt den Rabbi: „Rebbe, wie kann das sein? Du hast doch beiden recht gegeben!“ Der Rabbi antwortet: „Ja, du hast auch recht.“
Die Israelis und Palästinenser stehen sich so unversöhnlich gegenüber wie vielleicht noch nie zuvor in ihrer konfliktreichen Geschichte. Israels unfassbarer Schock nach dem Hamas-Terror am 7. Oktober ist nicht zu begreifen. Das unendliche Leid der Menschen in Gaza nach dem Einmarsch der IDF ist kaum in Worte zu fassen. Doch in diesem Fall gibt es keinen Rabbi, der beiden Seiten recht gibt – und uns Außenstehenden gleich mit.
Natürlich hat Israel das Recht, sich nach dem Terrorangriff zu verteidigen – nicht nur gegenwärtig, sondern auch in seiner grundlegenden, unverhandelbaren Existenz. Die Palästinenser wiederum haben das Recht, ihr Anliegen und ihr Leid sichtbar zu machen und sich für ihre Rechte einzusetzen – auch für das Recht auf Existenz. Das Menschenrecht steht beiden Seiten gleichermaßen zu. Das heißt: Beide haben recht.
Ich gehe sogar weiter und behaupte, dass wir uns verrannt haben – in einer Konstruktion, in der wir davon ausgehen, dass sich zwei unvereinbare Gegensätze gegenüberstehen. Ich sehe die Aufgabe – und die Herausforderung – darin, genau diese Gegenüberstellung aufzulösen.
Diskurs statt Polarisierung: Wer Frieden will, muss beide Seiten sehenMir ist bewusst, dass es ein Zeichen der zunehmenden Polarisierung ist, dass wir zu jedem Thema sofort in Lager und Gegenpole verfallen und dann in diesen verharren. Aufgabe politischer Bildung ist es, solche Kontroversen aufzuzeigen und durch Diskurs- und Aushandlungsprozesse zu bearbeiten. Das bedeutet: aktives Zuhören, ernsthaftes Eingehen auf die Argumente der jeweils anderen Seite, Positionen entwickeln, die Gedanken zusammenbringen, und Kompromisse ermöglichen.
Wir sollten die geografische Distanz zu Israel und Gaza nutzen und unterschiedliche Perspektiven aufzeigen. Nicht um Unversöhnlichkeit zu reproduzieren, sondern um durch die Darstellung der Kontroversität ein Stück Verständnis zu ermöglichen – Verständnis dafür, dass dieser Konflikt nie einseitig zu betrachten, zu beurteilen oder zu lösen ist.
Hierbei geht es keineswegs darum, Israelhassern Verständnis zu zeigen oder eine Plattform zu bieten. Es geht darum, komplexe Realitäten abzubilden, ohne in falsche Gleichsetzungen oder schiefe Balance zu verfallen. Wenn ich nur für Israel oder nur für Palästina bin, werde ich der Komplexität des Konflikts nicht gerecht. Einseitigkeit hilft auch der Seite nicht, mit der ich mich verbunden fühle – denn sie führt nicht zu Verständigung, sondern verstärkt Ablehnung. Wer echte Lösungen will, muss beide Seiten mitdenken. Uns muss es um ein übergeordnetes Ziel gehen: Frieden, Aussöhnung, Koexistenz.
Warum Haltung mehr ist als nur EmpörungEntscheidend ist: Warum beziehe ich Position? Was ist meine Motivation? Will ich wirklich für etwas sein oder einfach nur gegen das andere? Wenn mir das übergeordnete Ziel fehlt, lande ich in einer Sackgasse. Uns fehlt eine Vision für Frieden. Vielleicht sogar die Vorstellungskraft dafür. Für mich persönlich ist es daher wichtig, zu erkennen, was ich hier – in Deutschland – tun kann und tun muss. Damit will ich keinesfalls sagen, dass mir die Palästinenser oder Israelis egal sind. Aber ich bilde mir nicht ein, dass ich mit Empörung allein die weltpolitische Lage verändern kann. Und noch weniger bilde ich mir ein, dass ich etwas getan habe, wenn ich lediglich online protestiere. Das stellt nur mich und meine Gefühle in den Mittelpunkt – aber es geht nicht um mich oder meine Empörung. Es geht um die Menschen dort. Und hier geht es auch um Kinder und Jugendliche, um Schüler.
Debatten sind gut – wenn sie helfen und weiterführen. Sie sind weniger gut, wenn sie blockieren oder ablenken. Und sie sind gefährlich, wenn sie als Stellvertreterkriege missbraucht werden. Sie werden dann problematisch, wenn sie nicht zur Lösung beitragen, sondern selbst zum Problem werden. Um es einmal zu verdeutlichen: Wenn jede Nachricht, die wir aus Gaza erhalten, als „Pallywood“-Produktion (Anm. d. Red.: Wortspiel aus Palestine und Hollywood) abgetan wird, also ins Lächerliche gezogen und als „Hamas-Propaganda“ disqualifiziert wird und jede Nachricht aus Israel als Produkte der angeblich von „den Juden“ kontrollierten Medien antisemitisch konnotiert und abgelehnt werden, überbieten wir uns in Schuldzuweisungen und Unterstellungen, mal rassistisch, mal antisemitisch aufgeladen. Was als Ventil zum Druckablassen dient, hilft niemandem – weder hier noch dort. Im Gegenteil: Die Fronten verhärten sich, die Echoräume schrumpfen, Empathie wird blockiert.
Es reicht nicht, auf der Meinungsebene zu bleiben und etwas gut oder schlecht zu finden. Es braucht Urteilsbildungsprozesse: sich mit Gegenpositionen auseinandersetzen, Argumente dafür und dagegen reflektieren und die eigene Haltung kritisch hinterfragen. Erst durch das Abwägen, Vergleichen, Erörtern kann die eigene Position in Relation zu anderen Realitäten gesetzt werden – und diesen anderen Realitäten auch Raum gegeben werden. In diesen Prozessen geschieht etwas Entscheidendes: Perspektivwechsel. Empathie. Verständnis. Und dadurch steigt die Bereitschaft, eigene Positionen aufzuweichen und neue Perspektiven überhaupt zuzulassen. Die Wahrheit liegt bekanntlich selten nur auf der einen oder der anderen Seite – sondern irgendwo dazwischen.
Für die politische Bildung und fachdidaktische Arbeit heißt das: Kontroversität muss gewährleistet werden. In schulischem Kontext bedeutet das auch Schülerorientierung. Wenn Schüler palästinensische Bezüge haben, müssen diese Realitäten ebenso berücksichtigt werden wie die von Schüler mit jüdischen oder israelischen Bezügen. Ein weiteres Prinzip ist Handlungsorientierung: Nach intensiven Diskussionen und Reflexionsprozessen müssen wir auch überlegen, was daraus folgt – welche Handlungsoptionen entwickelt werden können.
Ein Like auf Social Media ist kein HandelnWir müssen weg von der Vorstellung, dass eine Meinung auf Social Media bereits als aktives Handeln ausreicht. Und wir müssen uns davon lösen, Menschen immer unmittelbar in ein Freund-Feind-Schema einzuteilen. Ich hielt einmal einen Vortrag, in dem ich ausführlich schilderte, was die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus in den letzten 15 Jahren getan hat – Methoden, Workshops, Ausstellungen, Bildungsreisen nach Israel. Ich berichtete, was das bei Jugendlichen positiv verändert hat. Und am Ende fragte mich eine Teilnehmerin – offensichtlich hatte sie mir nicht wirklich zugehört: „Und wie stehen Sie zu Israel?“ Da war sie, die Gretchenfrage.
Diese Frage will herausfinden, auf welcher Seite man steht. Hierbei ist es irrelevant, ob man sich jahrzehntelang gegen Antisemitismus eingesetzt hat und diese Erfahrungen noch zwei Minuten vorher ausführlich vorgetragen hat.
Berliner-zeitung